#beatberlin42 – die Qual der letzten 7


Zehn Kilometer Gänsehaut, sieben Kilometer Qual und die Zeit dazwischen – ein weiterer Erfahrungsbericht zum ersten Marathon des Lebens.

Erfahrungsberichte über den ersten Marathon gibt es im Internet möglicherweise sogar mehr als AfD-Wähler, schließlich ist das Laufen eines Marathons mittlerweile zu einer Mode geworden wie eben das Schreiben darüber. Also verfasse auch ich einen Bericht, wohl wissend nichts wirklich Neues beitragen zu können.

Und doch ist es ein Erlebnis, dass man gerne ewig in Erinnerung behalten möchte, so einzigartig die Erfahrung, so einzigartig die Qualen, so einzigartig das Gefühl durch das Brandenburger Tor zu laufen, das Ziel vor Augen. Das Ziel nach weit mehr als 42,195 Kilometern …

Die Hochzeit zum Marathon

Gestartet bin ich eigentlich 29. September 2013 – dem Tag nach der Hochzeit von Sebastian und Mario, die ich in Berlin fotografieren durfte. Vor meinem Hotel verlief die Marathonstrecke und tausende Läufer liefen angefeuert von noch mehr Zuschauern in der Herbstsonne vorbei. Was für eine Stimmung, was für eine Atmosphäre. Da muss ich auch mal mitmachen, dachte der Sportler in mir, der bis dahin noch nicht mal einen Halbmarathon gelaufen war und überhaupt erst vor einigen Monaten seine Läuferkarriere gestartet hatte.

In einem Anfall von Übermut bewarb ich mich trotzdem gleich für einen Startplatz und … bekam keinen. Die kommenden Jahre waren geprägt von vielen kleinen Verletzungen, etlichen Arztbesuchen und Behandlungen, einer Operation, weiteren Absagen, bevor ich mich am 19. Oktober 2016 erneut um einen Startplatz bewarb. Ich konnte gerade seit einigen Wochen wieder laufen und dachte, bewerben kann man sich ja mal.

Ernst wurde die Sache am 30. November, als ich die Mail mit der Überschrift „Sie sind ein Gewinner“ (Nein, es ging nicht um eine Erbschaft eines Onkels aus Timbuktu) bekam, was gleichbedeutend mit einer Abbuchung der Startgebühr und der Kosten für das Finisher-Shirts in Höhe von 142 Euro war. Um das Geld nicht in den Wind zu schießen, musste ich die Sache wohl von nun an ernst nehmen.

Von Null auf … irgendwas

Doch erstmal war ich wieder verletzt und es folgten Arztbesuche und ein intensives Fitnesstraining ab dem 6. Januar 2017. Das Training war immerhin so erfolgreich, dass ich am 25. Februar die erste Laufeinheit von 5 Kilometer gewagt habe. Erfolgreich. Die Schmerzen im Knie waren beherrschbar, besser zumindest als die 5 Kilometer Laufstrecke. Nach fast einem halben Jahr Sportpause musste ich wohl von Null anfangen.

Überhaupt waren Verletzungen mein größte Sorge in der Vorbereitung, so versuchte ich jedes Zeichen meines Körpers zu deuten und lieber zu früh als zu spät aufzuhören, um das Ziel #beatberlin42 nicht zu gefährden.

Um es vorwegzunehmen, es ist gelungen. Tatsächlich bin ich komplett ohne Verletzung durch die Vorbereitung gekommen, lediglich eine hartnäckige Erkältung hat mir über Wochen zu schaffen gemacht, aber das hat mich weniger aus der Ruhe gebracht, als es eine Muskel- oder Sehnenverletzung getan hätte.

Schwierig war, die Motivation hoch zu halten, regelmäßig – also wöchentlich – lange Läufe einzuplanen. Und das bedeutet über Wochen und Monate hinweg nicht nur die Zeit, sondern auch die Ernährung dahingehend abzustimmen. Und manchmal kommt eben etwas dazwischen, dann wird der Lauf verlegt und so verschiebt sich der gesamte Trainingsplan und – schwupp – muss auch mal der ein oder andere Lauf ausfallen.

So bin ich eben nur mit 684 Trainingskilometern in den Beinen nach Berlin gereist, wohlwissend, dass mir einige Kilometer fehlen, um die 42 Kilometer einigermaßen locker bis zum Ende laufen zu können, aber mittlerweile auch in der Überzeugung, die Distanz zu schaffen.

Warm-Up über Stunden

Motiviert hat mich über Monate die Vorstellung, durch das Brandenburger Tor zum Ziel laufen zu können, aber genauso habe ich mich darauf gefreut, dass meine Familie mich am Straßenrand anfeuert. So sind wir also zwei Tage vor dem Start nach Berlin aufgebrochen.

Am Sonnabend musste ich zunächst meine Startunterlagen, in erster Linie die Startnummer, bei der Messe Berlin Vital abholen. Etwas skeptisch war ich, wie es wohl funktioniert, wenn 44.000 Menschen versuchen an nur drei Tagen ihre Startunterlagen abzuholen. Aber als ich auf dem Weg zur Messe als erstes einen Rasteder traf, war mir klar, die Welt ist klein. Und tatsächlich war der Ablauf auf der Messe einwandfrei organisiert, so dass ich schon nach zwanzig Minuten alle Unterlagen zusammen hatte und mich sogar noch ein wenig auf der Messe umschauen konnte.

Den Rest des Tages verbrachten wir mit gemäßigten Sightseeing, bevor ich versuchte in den Schlaf zu finden. An Schlaf war allerdings ab 5 Uhr morgens nicht mehr zu denken, weil in unserem Sportler-Hotel, die Marathonis zum Leben erwachten (und ihre Wecker gerne in der Snooze-Stellung beließen).

Zwei Toast später machte ich mich um kurz nach 7 Uhr bewaffnet mit Energieriegel und Energiedrink auf dem Weg zum Start. Dick eingepackt in zwei Pullover und Trainingshose stand ich dann um kurz vor 8 Uhr an der Startlinie in Block H (das sind die Langsamen). Das Warten beginnt, denn mein Start war erst für 10 Uhr vorgesehen. Um kurz nach 9 Uhr suchte ich mir dann einen Weg aus dem gut gefüllten Startblock, um mich noch ein wenig aufzuwärmen. 15 Minuten später drängelte ich mich zurück in die vorderen Reihen, denn von hinten wollte ich auch nicht starten. In meinem Block sollten die Starter ohne Marathon-Erfahrung und die Läufer, die bisher langsamer als 4:15 Stunden waren, starten. Das war so ungefähr meine Zielzeit. Eingestellt hatte ich meine Uhr auf 4:13 Stunden und da ich keine Lust hatte, die ersten Kilometer Energie mit ständigen Überholmanövern zu vergeuden, wollte ich eben recht weit vorne stehen.

Nachdem um 9.35 Uhr die zweite Welle gestartet war, wurde es spannend, denn unsere H-Gruppe wurde langsam zur Startlinie geleitet – und das, wo ich mich noch nicht einmal meiner überflüssigen Bekleidung entledigt hatte. Die flog nun nach und nach als Kleiderspende über die seitlichen Absperrungen. Noch ein wenig isländische Anfeuerung der Massen, dann der Countdown und Startschuss – los geht’s.

Startschuss

Natürlich musste es pünktlich um 10 Uhr zu regnen beginnen, wirklich gestört hat das aber nicht. Trotz der großen Läuferzahl war es kein großes Problem mein Tempo zu finden. Und im Zusammenspiel mit meinem Puls verriet mir ein Blick auf meine Uhr, dass ich einen guten Lauftag erwischt hatte. Mein anvisiertes Tempo von 5:40 min/km konnte ich auf den ersten 20 Kilometer häufig unterbieten, ohne den Puls in die Höhe zu treiben.

Mehr zu schaffen machte mir die Gänsehaut auf den ersten zehn Kilometer. Ständig hörte ich ein „Go, Martin, Go“, „Super, Martin, weiter so“ oder „Martin, gib alles.“ Und tatsächlich war ich gemeint, denn dank des Namens auf der Startnummer gab es sehr persönliche Anfeuerungsrufe, ohne dass ich nur einen der Unterstützer kannte. Außerdem nahm ich nahezu jede Kinderhand mit, die mir zum Abklatschen entgegen gestreckt wurde. Hinzu kamen noch die etlichen Musikgruppen oder einsamen Trommler, die über Stunden alles gaben, um uns im Rhythmus zu halten. Wie gesagt, zehn Kilometer Gänsehaut.

Gegen Ende des ersten Viertels sah ich zum ersten Mal die grüne Jacke meines Ältesten und Lasse, Jona und Sonja strahlten mir entgegen. Kurz abklatschen und weiter geht’s.

In Trance

Das Vorhaben jeden Kilometer zu genießen, vergaß ich nach etwa zehn Kilometer, mittlerweile waren anfängliche Schmerzen im rechten Bein und Hüfte verschwunden und ich nahm nicht mehr so viel von meiner Umgebung war. Ein zweites Mal traf ich auf meine Familie und wir tauschten kurz aus, dass ich „zu schnell“ unterwegs war. Immer noch lief ich häufiger unter meinem anvisierten 4 Stunden-Schnitt. Einzig bei den Trinkpausen nahm ich mir etwas mehr Zeit, in der festen Absicht auf erfahrene Läufer zu hören und bereits zu trinken und zu essen, wenn einem noch gar nicht danach ist. Die Halbmarathonmarke erreichte ich dann ziemlich genau nach zwei Stunden.

Die gefürchteten 28

Bei Kilometer 27 lief ich zum letzten Mal den 5:40er Schnitt, wohl wissend, dass die 4 Stunden niemals möglich waren, schließlich waren da noch die gefürchteten letzten zehn Kilometer. Die begannen für mich gedanklich schon bei 28 Kilometern, denn schließlich war das bisher meine Todesmarke. Es wäre vermessen zu vermelden, dass ich mich diesmal super gefühlt hätte, aber gleichzeitig dachte ich mir: „So gut hast Du Dich bei 28 Kilometern noch nie gefühlt.“

Beginn der Qual

Trotzdem die Beine wurden schwer, die Pause an den Versorgungsstellen und bei meiner Familie, die mich weiterhin fleißig in regelmäßigen Abständen abpassten, länger. Richtig hart wurde es ab Kilometer 34 und die Gewissheit wuchs, dass nun die gefürchtete Quälerei beginnen sollte. Die Blicke auf die Uhr häufiger, in der Hoffnung, dass die Kilometer vielleicht schneller vorbei gehen würden. Das „Daumenhoch“ als Dank für persönliche Anfeuerungen wurde schwieriger und das Lächeln über die zahlreichen Motivationsschilder am Seitenrand („Umkehren wäre jetzt auch irgendwie blöd!“) fror langsam ein.

Überhaupt überkam mich eine Kälte, ich fing an zu frieren, und das obwohl ich bis zum Schluss regelmäßig Energie zu mir genommen hatte, aber den Körper interessierte das nicht wirklich mehr. Den Zustand der Erschöpfung zu beschreiben ist schwierig, denn die Beine schmerzen nicht, sie wollen nur einfach nicht mehr laufen. Hinzu kommt die mentale Grenzüberwindung, weiterhin zu laufen. Gehen wäre schließlich auch eine Option, zu diesem Zeitpunkt des Rennens hat man das Gefühl, schon eine Ausnahme zu sein. Viele Läufer auf meinem Niveau (also die, die zum diesen Zeitpunkt noch nicht im Ziel sind) sind mittlerweile zum Geher geworden.

Ziel vor Augen

Dann passiert etwas, dass ich vorher nicht geglaubt habe: Als ich auf die Straße „Unter den Linden“ einbiege und die Menschenmassen uns Richtung Brandenburger Tor peitschen, geht tatsächlich noch was. Ich kann noch ein letztes Mal Tempo aufnehmen und rase nahezu dem Ziel entgegen. Ein wenig muss ich mit den Tränen kämpfen und ein Blick zu den anderen Läufern verrät mir, dass ich da nicht der einzige bin.

Nach offiziellen 4:13:48 Stunden überquere ich die Ziellinie.

Epilog

Mache ich das nochmal? Schwer zu sagen, noch nicht einmal 48 Stunden nach Rennende, wenn die Beine immer noch Schmerzen und der alte Fitnesszustand noch längst nicht erreicht ist. Die Qual der letzten sieben Kilometer schreckt dabei nicht ab, besonders, wenn man diese durch mehr Trainingskilometer in den Griff bekommen könnte. Aber da liegt schon das Schreckgespenst: Die Vorbereitung war schon extrem kraft- und zeitraubend. Da muss ich noch ein paar Nächte drüber schlafen … obwohl ich mich ja jetzt für Startgruppe F qualifiziert hätte.

Teilnehmer gemeldet: 43852
Teilnehmer im Ziel: 39107
Teilnehmer im Ziel AK M40: 4720

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