Melancholie in traurigster Form


Ein letztes welkes Blatt weht vom Baum, tänzelt noch müde durch die Luft, bevor es sanft zu Boden segelt. Ein schwacher aber stetiger Nieselregen rieselt energisch, die Dämmerung bricht ein, und der kurze Tag findet schon am frühen Nachmittag sein Ende. Zeit für eine kuschelige Wolldecke, einen warmen Tee, Kerzenschein und die Schoolyard Ghosts. Wie also kann das Duo, das sich hinter No-Man versteckt, dieses trübselige Album ausgerechnet in der Zeit der Frühlingsgefühle – im Mai – auf den Markt bringen?

Natürlich: Verlust, Einsamkeit und Sehnsucht – die Themen des Albums – kennen keine Jahreszeiten. Und doch: Selbst schwermütige Seelen müssen die Chance bekommen, im Frühling das Leben zu genießen. Sie sollten zwar nicht die Finger von diesem Meisterwerk lassen, es aber bis zum Oktober im Schrank einschließen, um sich dann das volle Ladung Trauer zu geben.

Schon beim ersten Song "All Sweet Things" droht die Stimme von Sänger Tim Bowness zu zerbrechen – wird sie überhaupt ein ganzes Album durchhalten? Vorsichtig umspielen Klavier, Gitarre und Keyboard die fragile Stimme. Und als sich die Begleitung am Ende immer mehr in den Vordergrund spielt, zieht sich Bowness bescheiden zurück. Die Bescheidenheit seiner Stimme zieht sich durch die kompletten 53 Minuten – vorausgesetzt man überspringt den "Pigeon Drummer" – der irgendwie gar nicht in die Ambient-Atmosphäre der übrigen Songs einfügen will.

Im Mittelpunkt des wundervollen Gesamtkunstwerks steht das 13-minütige Truenorth, das sich viel Zeit zur Entfaltung lässt, ohne dass eine Spur Langeweile aufkommt. Dem überragend klaren Gitarrenspiel von Steven Wilson wird dabei sogar ein Flötenspiel à la Ian Anderson (Jethro Tull) entgegengesetzt. Mehrfach droht der Song auszubrechen, doch Bowness‘ Gesang entschärft immer wieder alle Spannungen.

Nach der kurzweiligen knappen Stunde, die paradoxerweise wie eine Ewigkeit wirken, stellt sich dem Hörer schon die Frage, ob das Duo Bowness/Wilson jemals Sonnenlicht gesehen hat, oder ob sie ihr Leben in dunklen, vermoderten Kellergewölben verbringen, in denen es weder Glück noch Freude gibt. Zumindest für Wilson gibt es eine Antwort, denn mit seinen anderen Bands Porcupine Tree, Blackfield und dem Bass Communion-Projekt kann es das musikalische Multitalend auch so richtig krachen lassen. Die Arbeit mit No-Man wirkt da wie ein Gegenpol – schön, dass es diesen schon seit 21 Jahren gibt.

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